Heute möchte ich euch wieder einmal was ganz praktisches an die Hand geben. Ich betreue Masterarbeiten an der HSR Rapperswil. Meine Studentinnen hatten in ihrem Projekt eine interessante Methode angewendet, die ich euch gerne vorstellen möchte. Sie haben ein Vorgehensmodell aus dem User Centered Design uminterpretiert und für die Auswertung von Test Insights angewendet.

 

Priorisieren ist eine Kunst

Vielen von uns fällt eine Sache im Leben besonders schwer. Das ist das Priorisieren. Im Alltag und vor allem bei der Arbeit stossen wir immer wieder auf Situationen in denen wir Mühe haben festzulegen, was für Schritte wichtiger sind als andere und in welcher Reihenfolge wie sie angehen müssen.

Auch beim Auswerten von Nutzertests tritt dieses Phänomen auf. Wir stehen vor einem Berg an Findings und Insights. Welche Findings soll oder muss man zuerst angehen? Natürlich sind einige wichtiger oder kritischer, andere weniger. Die Frage ist bloss, woran man diese Wichtigkeit festmachen kann? Meist ist es so, dass derjenige Mensch, der am lautesten schreit, die Priorisierung festlegt.

 

Vom Vorgehensmodell zu einem Priorisierungsratser

J.J. Garrett hat in seinem 2011 vorgestellten Buch “The Elements of User Experience” ein Modell vorgeschlagen, das auf 5 Ebene beruht:

  • Strategy (Fragen der Strategie, Ziele, KPIs)
  • Scope (Fragen des Umfangs)
  • Skeleton (Fragen der Informationsarchitektur)
  • Structure (Fragen der Interaktion)
  • Surface (Fragen der visuellen Erscheinung)

Er nutzt dieses Modell, um ein Vorgehen innerhalb eines nutzerzentrierten Designprozesses zu etablieren. Mann arbeitet sich von der Strategieebene bis zur Oberfläche und löst dabei die Fragestellungen gemäss ihrer Flughöhe. Ich will jetzt aber nicht im Detail darauf eingehen. In einem anderen Post in diesem Blog findet ihr mehr darüber.

Dieses Vorgehensmodell haben nun die Studentinnen genommen und die 5 Ebenen als Priorisierungsratser für die Ergebnisse eines Nutzertests verwendet. Findings und Learnings lassen sich nun relativ klar einer der Ebenen zuordnen. Die Nutzer hatten Probleme, die sich offensichtlich auf visuelle Elemente und deren Wahrnehmung zurückführen lassen, andere auf die Informationsarchitektur. Aber es gab auch einige Findings, die das Grundkonzept bzw. die Strategie des Auftraggebers an und für sich in Frage stellen, also nach dem Modell der Strategie-Ebene zuordnen lassen.

Fehler oder unbeantwortete Fragestellungen auf der strategischen Ebene sind die “gefährlichsten”, weil sie viel komplexer zu beantworten oder zu lösen sind als solche auf einer der “höheren” Ebenen. Sie sind äusserst kritisch für den Erfolg der Produktes oder Services, während Fehler auf der Oberfläche schnell zu beheben sind und nicht kritisch sind für den Erfolg.

Sind die Findings aus einem Nutzertest erst mal auf dieses Schema herunter gebrochen, ist es ein leichteres zu entscheiden was man zuerst anpacken soll. Man hat ziemlich schnell ein Bild davon, ob man mit dem Vorhaben auf dem Holzweg ist oder “nur” noch etwas Kosmetik braucht. Das ist besonders Hilfreich bei Tests im Prototypen-Stadium und kann gute Anhaltspunkte liefern, wo am Gesamtkonzept geschraubt werden sollte, bevor man auf Usability Issues eingeht.

Manche von euch mag dieses Vorgehen bekannt sein und der eine oder andere hat es vielleicht schon längst in seine täglichen Priorisierungsarbeit angewendet. Für mich war diese Idee neu, obwohl mir das Modell von Garrett bekannt war. Man schaut sich manchmal solche Vorgehensmodelle wohl etwas zu “abgehoben” an und verkennt ihre Nützlichkeit auch im “Kleinen”. Danke an meine Studentinnen für dieses Learning 🙂